Dienstag, 23. Februar 2010

Margot Käßmann - Ich stehe zu ihr !!!!



Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.(Römer 2,1)

UndineGrueter -> Das Buch der Unruhe 01

Auf offener Straße


Oft lag ich auf der Matratze und blickte durch das schräge Fenster in den grauen Himmel. Ich hauste in einem engen Verschlag unter dem Dach. Die Laken, flek-kig, grau und zerknüllt, stanken nach Schweiß und verklebtem Staub. Es war der Geruch einer Lähmung, der sich langsam in die Lungen fraß. Von Tag zu Tag wuchs der Ekel. Doch die Laken in die Wäscherei zu geben, dazu konnte ich mich nicht aufraffen. Dahintreibend mit Tagträumen, die eine so trübe und schlammige Farbe annahmen wie das Licht, wenn es durch das verkrustete Bodenfenster auf die mit Packpapier beklebten Wände sickerte, fiel ich immer wieder in Schlaf, aus dem ich erwachte, träge und steif, mit einer auf der Brust wie ein Klumpen hockenden Dumpfheit.
Lange Zeit wiederholte sich ein Traum, daß mir die Haare in Büscheln vom Kopf fallen, ein eiskalter Wind erhebt sich von fern und treibt sie wie trockene Blätter vor sich her, und in dem Sturm geht mein kahler Schädel. Nachts drang vom tiefer gelegenen Stockwerk das lüsterne Keuchen der Mieterin unter mir herauf. Die Wände, die Luft waren erfüllt vom Röcheln, vom Husten, von den Schreien der Frau.
Stundenlang hockte ich auf dem Boden und sah durch das niedrige Fenster auf das nächtliche Schienennetz, auf die einsamen roten Signale, die weiten Lagerhallen, die ferne Eisenbahnbrücke, deren Träger und Bögen von der Witterung angefressen waren; ich sah über dem Fluß die braunen Güterzüge rangieren in der Morgendämmerung.

Das Packpapier löste sich langsam von den Wänden. Doch ich blieb hier wohnen, denn mir fehlte eine feste Geldquelle. Im übrigen kam ich auch zu Zeiten, wenn ich flüssiger war, nicht auf den Gedanken, in eine hellere und luftigere Wohnung umzuziehen. Es war die Anstrengung des Umzugs, die mich abschreckte, wie jede Unternehmung in der Außenwelt mich störte. Auch hielt das Zimmer, so wie es war, mir lästige Besucher vom Leib. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, mich in diesem undichten Loch, das im Sommer stickig und drückend war und im Winter verräuchert und zugig, zu besuchen oder gar sich über Nacht dort einzuquartieren. In gewisser Weise gefiel mir der Zustand. Es war, als verkröche ich mich in einen Ausguß wie ein Tarnung suchendes Insekt, und der Ekel der anderen vor diesem Ort schützte mich.
Ich besaß einen ledernen Paravent für das Waschbek-ken, an dem ich mich wusch, einen großen Tisch, eine Messinglampe mit grünem Schirm, zwei tiefe bequeme Sessel und einen zerfledderten Stich von der Place des Vosges aus einer Zeit, als in der Mitte des Platzes noch keine Bäume gepflanzt waren rund um das Standbild Ludwig XIII. Ein geometrischer Liebeshof, in dem die schöne Marion Delorme unter den Arkaden geht. Die Sessel gingen zwar aus dem Leim, aber ich lag ohnehin immer auf der Matratze.
Es ging lebhaft zu dort oben. Die anderen Mieter aus den unzähligen Käfigwohnungen dieses Steinkastens hatten auf dem angrenzenden Speicher kleine Verschlage zugeteilt bekommen, und manchmal, wenn sie ein Vorhängeschloß öffneten, um in ihren Habseligkeiten zu wühlen, entdeckten sie in den Ecken brütende Vögel, die durch die Dachritzen hereingekrochen waren.
Heruntergekommenes Mietshaus aus der Gründerzeit mit Holztreppen und Klos auf dem Zwischenstock Und merkwürdigen Leuten wie dem Dicken, der mit umwik-kelten, in Gummistrümpfen steckenden Wasserbeinen herumlief, im Parterre wohnte und schwarz arbeitete für ein Bestattungsunternehmen. Das heißt, er sargte die Toten ein. Manchmal mußte er auf die Autobahn, um die zerstückelten Teile der Opfer aufzusammeln. Einmal, sagte er, lag eine Hand abgetrennt quer über der Fahrbahn, und der Polizist mußte kotzen.
Der Dicke war der einzige Mensch, mit dem ich täglich sprach. Immer hing er im offenen Fenster zur Straße, billige Fehlfarben rauchend, und ich höre sein asthmatisches Krächzen, es jibt Fliejen, Fliejen, wenn das Wetter schwül wurde. Ein trauriger Fettkloß mit dem schleichenden Tod in den Venen. Die schwerfällige Art, mit der er sich über die Straße schob, widersprach auf lächerliche Weise seinem unablässigen Redebedürfnis. Zu jeder Tages- und Nachtzeit sprach er mich an, ob ich das Haus verließ oder betrat.
Kein Gespräch zwischen uns ging ab ohne dreckigen Witz. Dann blinzelte er seiner Frau zu, die meistens mit fehlendem Gebiß in der stickigen Wohnung herumlag.
.....

UndineGrueter -> Der Autor als Souffleur 01

Die Familie steckt uns allen wie eine Kugel im Kopf. Doch
sind es weniger die katastrophalen Brüche, mit denen wir
auseinandergehen, die uns zusetzen, als das erbärmliche
Gespinst von Intrigen, das uns tagtäglich einfängt, und
die unendliche Anstrengung der Feinfühligkeitsstrategien,
weswegen wir uns gelähmt, versklavt, unter dem Bann eines
Fluchs finden. Stärkstes Druckmittel gegen den, der ausschert:
die Moral wird ins Spiel gebracht gegen die Freiheit.
Die wenigsten schaffen es, mit dem Gefühl, ein Schuft
zu sein, zu leben, das verhindert die von Kindheit infiltrierte
Anfälligkeit für Sentimentalität und seelische Erpressbarkeit.
Familie zeichnet sich durch die Unfähigkeit zur Reflexion
und Analyse ihrer eigenen Motivationen aus.

_______________________________________________________
Ein großes Werk sucht sich als Nährboden den Kopf eines Besessenen. Zum Wesen der Obsession gehört die Einsamkeit. Jahrelang in seinem Innern einen Gedanken mit sich herumtragen - das schafft die nötigen giftigen Ingredienzien.

Ein Künstler muss vom Detail ausgehen: ein Stück Stroh,
ein Geruch, ein halbgesprochener, hingeworfener Satz -
erst darin formt sich das Weitere, spinnt sich in einer halb
bewussten Suche. Niemals genau wissen, festlegen, was er
will. Die Ideen, das Gerüst - das liegt auf einer anderen
Ebene.